Ein starker und attraktiver öffentlicher Nahverkehr ist essenziell, wenn die Verkehrswende gelingen und unsere Mobilität in Zukunft nachhaltiger gestaltet werden soll. So hat sich die deutsche Bundesregierung eine Verdopplung der Fahrgastzahlen im Bahnverkehr bis 2030 auf die Fahnen geschrieben. Damit dies gelingen kann, sollen auch einst stillegelegte Bahnstrecken ein Comeback erleben. Das Land Baden-Württemberg hat jetzt eine Studie vorgestellt, die untersucht hat, bei welchen Strecken im „Ländle“ sich die Reaktivierung von Bahnstrecken lohnen würde.
Insgesamt wurden 42 Bahnstrecken hinsichtlich ihres Fahrgastpotentials unter die Lupe genommen. Eine wichtige Grundlage dafür waren Struktur- und Verkehrsdaten. Wo leben die Menschen in den zu betrachtenden Regionen, wo arbeiten sie und gehen sie zur Schule, und wie bewegen sie sich?
„Bei der PTV haben wir den Vorteil, dass wir auf verschiedenste Verkehrs- und Modelldaten zugreifen können. So konnten wir mit Daten aus dem PTV-eigenen deutschland-weiten Verkehrsmodell Validate und aus einem ÖV-Verkehrsmodell des Landes arbeiten“, erklärt Petra Strauß, die die Studie beim beauftragten Beratungsunternehmen, der PTV Transport Consult GmbH, leitete. „Diese Bewegungsdaten wurden von uns fortgeschrieben und Veränderungen bis ins Jahr 2030 prognostiziert. Dabei haben wir die voraussichtliche Strukturentwicklung des Landes berücksichtigt.“
Ein weiterer wichtiger Faktor, um mögliche Fahrgastzahlen auf den zu reaktivierenden Strecken abschätzen zu können, sind die so genannten Reisewiderstände für den Öffentlichen und für den konkurrierenden Pkw-Verkehr. So halten beispielsweise lange Fahrzeiten oder häufiges Umsteigen, eine niedrige Taktung oder lange Wege zum Bahnhof Menschen davon ab, den Öffentlichen Verkehr zu nutzen. Beim Auto sind es neben der Fahrzeit vor allem Einschränkungen beim Parken. Die Verkehrsmittelwahl, also ob der ÖV oder das Auto gewählt wird, hängt maßgeblich von diesen verkehrlichen Widerständen ab. Der Pkw-Verkehr und der reaktivierte Bahnverkehr kann im Verkehrsmodell simuliert werden, um damit die relevanten Verkehrswiderstände zu ermitteln. Daraus wird dann die zukünftige Verkehrsmittelwahl der Verkehrsteilnehmer*innen und die potenziellen Fahrgastzahlen der Reaktivierungsstrecken abgeleitet.
Was zeichnet einen attraktiven ÖPNV aus?
„Wenn die Reisezeit im ÖPNV stimmt, ich möglichst nicht umsteigen und nicht weit zum Bahnhof laufen muss, dann ist der öffentliche Nahverkehr konkurrenzfähig“, so die PTV-Expertin. Wie oft der Zug auf der betreffenden Strecke fahren soll, spielt ebenfalls eine große Rolle.
„Wir sind in unserer Analyse überall erstmal von einem Stundentakt ganztägig zwischen 5 und 24 Uhr ausgegangen. Das ist das Mindestangebot. Wurde damit ein bestimmtes Nachfragepotenzial überschritten, haben wir die Taktung weiter erhöht,“ so Petra Strauß. „Mit der festgelegten Taktung konnten wir dann Aussagen über die Betriebsleistungen treffen. Wir können auch abschätzen, wie viele Pkw-Fahrten durch die Reaktivierung von Bahnstrecken vermieden werden können. Daraus lassen sich dann auch die möglichen Einsparungen von CO2-Emissionen im Pkw-Verkehr ableiten.“
So konnten die Berater*innen der PTV schlussendlich die 42 Strecken in vier Kategorien einteilen. Maßgebliche Kenngröße für die Einteilung war der Potenzialindikator: „Personenkilometer je Streckenkilometer“. Dieser Indikator gibt Auskunft über die erwartete durchschnittliche Besetzung der Bahn. Darüber hinaus wurden auch Kriterien, wie der aktuelle Infrastrukturstatus der Reaktivierungsstrecke und die erzielbare Netzwirkung mit einbezogen.
Mit der Potenzialstudie liegt dem Land nun eine Entscheidungsgrundlage für das weitere Vorgehen vor, um die Streckenreaktivierungen zielgerichtet voranzutreiben.
So sagte Gerd Hickmann, Abteilungsleiter Öffentlicher Verkehr, vom Verkehrsministerium Baden-Württemberg während der Vorstellung der Studie: „Von diesen Kategorien hängt es jetzt ab, was die nächsten Schritte in Richtung Reaktivierung sind. So müssen in den Kategorien A und B mit einem hohen Fahrgastpotential, dort wo dies noch nicht geschehen ist, Machbarkeitsstudien gemacht werden. Dann kann man in die Planung, die Standardisierte Bewertung und konkrete Umsetzung gehen.“